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Ich stopfte mir alle erreichbaren Kissen in den Rücken, legte mein wundes Bein hoch, zog das Telefon näher und überlegte, ob ich nicht doch in die Küche gehen, den Eisschrank öffnen und die Kognakflasche herüberholen sollte.

Dieses »berufliche Pech« hatte aus dem Mund meiner Mutter besonders boshaft geklungen, und sie hatte ihren Triumph nicht zu unterdrücken versucht. Wahrscheinlich war ich doch zu naiv, wenn ich annahm, hier in Bonn wüßte noch keiner von meinen Reinfällen. Wenn Mutter es wußte, wußte es Vater, dann wußte es auch Leo, durch Leo Züpfner, der ganze Kreis und Marie. Es würde sie furchtbar treffen, schlimmer als mich. Wenn ich das Saufen wieder ganz drangab, würde ich rasch wieder auf einer Stufe sein, die Zohnerer, mein Agent, als »ganz nett oberhalb des Durchschnitts« bezeichnet, und das würde ausreichen, mich meine noch fehlenden zweiundzwanzig Jahre bis zur Gosse hinbringen zu lassen. Was Zohnerer immer rühmt, ist meine »breite handwerkliche Basis«; von Kunst versteht er sowieso nichts, die beurteilt er mit einer fast schon genialen Naivität einfach nach dem Erfolg. Vom Handwerk versteht er was, und er weiß gut, daß ich noch zwanzig Jahre oberhalb der dreißig-Mark-Ebene herumtingeln kann. Bei Marie ist das anders. Sie wird betrübt sein über »den künstlerischen Abstieg« und über mein Elend, das ich gar nicht als so schrecklich empfinde. Jemand, der außen steht - jeder auf dieser Welt steht außerhalb jedes anderen - empfindet eine Sache immer als schlimmer oder besser als der, der in der Sache drin ist, mag die Sache Glück oder Unglück, Liebeskummer oder

»künstlerischer Abstieg« sein. Mir würde es gar nichts ausmachen, in muffigen Sälen vor katholischen Hausfrauen oder evangelischen Krankenschwestern gute Clownerie oder auch nur Faxen zu machen. Nur haben diese konfessionellen Vereine eine

unglückliche Vorstellung von

Honorar. Natürlich denkt so eine gute Vereinsvorsteherin, fünfzig Mark sind eine nette Summe, und wenn er das zwanzigmal im Monat bekommt, müßte er eigentlich zurechtkommen. Aber wenn ich ihr dann meine Schminkrechnung zeige und ihr erzähle, daß ich zum Trainieren ein Hotelzimmer brauche, das etwas größer ist als zweizwanzig mal drei, denkt sie wahrscheinlich, meine Geliebte sei so kostspielig wie die Königin von Saba. Wenn ich ihr aber dann erzähle, daß ich fast nur von weichgekochten Eiern, Bouillon, Bouletten und Tomaten lebe, bekreuzigt sie sich und denkt, ich müßte unterernährt sein, weil ich nicht jeden Mittag ein »deftiges Essen« zu mir nehme. Wenn ich ihr weiterhin erzähle, daß meine privaten Laster aus Abendzeitungen, Zigaretten, Mensch-ärgere-Dich-nicht-spielen bestehen, hält sie mich wahrscheinlich für einen Schwindler. Ich habe es lange schon aufgegeben, mit irgendjemand über Geld zu reden oder über Kunst. Wo die beiden miteinander in Berührung kommen, stimmt die Sache nie: die Kunst ist entweder unter- oder überbezahlt. Ich habe in einem englischen Wanderzirkus einmal einen Clown gesehen, der handwerklich zwanzigmal und künstlerisch zehnmal soviel konnte wie ich und der pro Abend keine zehn Mark verdiente: er hieß James Ellis, war schon Ende vierzig, und als ich ihn zum Abendessen einlud - es gab Schinkenomelett, Salat und Apfelpastete -, wurde ihm übel: er hatte seit zehn Jahren nicht mehr so viel auf einmal gegessen. Seitdem ich James kennengelernt habe, rede ich nicht mehr über Geld und über Kunst.

Ich nehme es, wie es kommt, und rechne mit der Gosse. Marie hat ganz andere Ideen im Kopf; sie redete immer von »Verkündigung«, alles sei Verkündigung, auch, was ich tue; ich sei so heiter, sei auf meine Weise so fromm und so keusch, und so weiter. Es ist grauenhaft, was in den Köpfen von Katholiken vor sich geht. Sie können nicht einmal guten Wein trinken, ohne dabei irgendwelche Verrenkungen

vorzunehmen, sie müssen sich um jeden Preis »bewußt« wer-

den, wie gut der Wein ist, und warum. Was das Bewußtsein angeht, stehen sie den Marxisten nicht nach. Marie war entsetzt, als ich mir vor ein paar Monaten eine Guitarre kaufte und sagte, ich würde nächstens selbstverfaßte und selbstkomponierte Lieder zur Guitarre singen. Sie meinte, das wäre unter meinem »Niveau«, und ich sagte ihr, unter dem Niveau der Gosse gebe es nur noch den Kanal, aber sie verstand nicht, was ich damit meinte, und ich hasse es, ein Bild zu erklären. Entweder versteht man mich oder nicht. Ich bin kein Exeget.

Man hätte meinen können, meine Marionettenfäden wären gerissen; im Gegenteil: ich hatte sie fest in der Hand und sah mich da liegen, in Bochum auf dieser Vereinsbühne, besoffen, mit aufgeschürftem Knie, hörte im Saal das mitleidige Raunen und kam mir gemein vor: ich hatte soviel Mitleid gar nicht verdient, und ein paar Pfiffe wären mir lieber gewesen; nicht einmal das Humpeln war ganz der Verletzung angemessen, obwohl ich tatsächlich verletzt war. Ich wollte Marie zurückhaben und hatte angefangen zu kämpfen, auf meine Weise, nur um der Sache willen, die in ihren Büchern als »fleischliches Verlangen« bezeichnet wird.


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Ich war einundzwanzig, sie neunzehn, als ich eines Abends einfach auf ihr Zimmer ging, um mit ihr die Sachen zu tun, die Mann und Frau miteinander tun. Ich hatte sie am Nachmittag noch mit Züpfner gesehen, wie sie Hand in Hand mit ihm aus dem Jugendheim kam, beide lächelnd, und es gab mir einen Stich. Sie gehörte nicht zu Züpfner, und dieses dumme Händchenhalten machte mich krank. Züpfner kannte fast jedermann in der Stadt, vor allem wegen seines Vaters, den die Nazis rausgeschmissen hatten; er war Studienrat gewesen und hatte es abgelehnt, nach dem Krieg gleich als Oberstudiendirektor an dieselbe Schule zu gehen. Irgendeiner hatte ihn sogar zum Minister machen wollen, aber er war wütend geworden und hatte gesagt: »Ich bin Lehrer, und ich möchte wieder Lehrer sein«. Er war ein großer, stiller Mann, den ich als Lehrer ein bißchen langweilig fand. Er vertrat einmal unseren Deutschlehrer und las uns ein Gedicht, das von der schönen, jungen Lilofee, vor.

Mein Urteil in Schulsachen besagt nichts. Es war einfach ein Irrtum, mich länger als gesetzlich vorgeschrieben auf die Schule zu schicken; selbst die gesetzlich vorgeschriebene Zeit war schon zuviel. Ich habe der Schule wegen nie die Lehrer angeklagt, sondern nur meine Eltern. Diese »Er muß aber doch das Abitur machen« - Vorstellung ist eigentlich eine Sache, deren sich das Zentralkomitee der Gesellschaf- ten zur Versöhnung rassischer Gegensätze einmal annehmen sollte. Es ist tatsächlich eine Rassenfrage: Abiturienten, Nichtabiturienten, Lehrer, Studienräte, Akademiker, Nicht-Akademiker, lauter Rassen. - Als Züpfners Vater uns das Gedicht vorgelesen hatte, wartete er ein paar Minuten und fragte dann lächelnd: »Na, möchte einer was dazu sagen?« und ich sprang sofort auf und sagte: »Ich finde das Gedicht wunderbar.« Daraufhin brach die ganze Klasse in Lachen aus, Züpfners Vater nicht.

hochnäsige Weise. Ich fand ihn sehr nett, nur ein bißchen zu trocken. Seinen Sohn kannte ich nicht sehr gut, aber besser als den Vater. Ich war einmal am Sportplatz vorbeigekommen, als er dort mit seiner Jungengruppe Fußball spielte, und als ich mich dorthin stellte und zusah, rief er mir zu: »Willst du nicht mitmachen?« und ich sagte sofort ja und ging als linker Läufer in die Mannschaft, die gegen Züpfner spielte. Nach dem Spiel sagte er zu mir: »Willst du nicht mitkommen?« Ich fragte:

»Wohin?« und er sagte: »Zu unserem Heimabend«, und als ich sagte: »Ich bin doch gar nicht katholisch«, lachte er, und die anderen Jungen lachten mit; Züpfner sagte:

»Wir singen - und du singst doch sicher gern.« - »Ja«, sagte ich, »aber von Heimabenden habe ich die Nase voll, ich bin zwei Jahre in einem Internat gewesen.« Obwohl er lachte, war er doch gekränkt. Er sagte: »Aber wenn du Lust hast, komm doch wieder zum Fußballspielen.« Ich spielte noch ein paar Mal Fußball mit seiner Gruppe, ging mit ihnen Eis essen, und er lud mich nie mehr ein, mit zum Heimabend zu kommen. Ich wußte auch, daß Marie im selben Heim mit ihrer Gruppe Abende hielt, ich kannte sie gut, sehr gut, weil ich viel mit ihrem Vater zusammen war, und manchmal ging ich abends zum Sportplatz, wenn sie mit ihren Mädchen da Völkerball spielte, und sah ihnen zu. Genauer gesagt: ihr, und sie winkte mir manchmal mitten aus dem Spiel heraus zu und lächelte, und ich winkte zurück und lächelte auch; wir kannten uns sehr gut. Ich ging damals oft zu ihrem Vater, und sie blieb manchmal bei uns sitzen, wenn ihr Vater mir Hegel und Marx zu erklären versuchte, aber zu Hause lächelte sie mir nie zu. Als ich sie an diesem Nachmittag mit Züpfner Hand in Hand aus dem Jugendheim kommen sah, gab es mir einen Stich. Ich war in einer dummen Lage. Ich war von der Schule weggegangen, mit einund- zwanzig von der Untersekunda. Die Patres waren sehr nett gewesen, sie hatten mir sogar einen Abschiedsabend gegeben, mit Bier und Schnittchen, Zigaretten und für

die Nichtraucher Schokolade, und ich hatte meinen Mitschülern aller-

lei Nummern vorgeführt: katholische Predigt und evangelische Predigt, Arbeiter mit Lohntüte, auch allerlei Faxen und Chaplin-Imitationen. Ich hatte sogar eine Abschiedsrede gehalten »Über die irrige Annahme, daß das Abitur ein Bestandteil der ewigen Seligkeit sei«. Es war ein rauschender Abschied, aber zu Hause waren sie böse und bitter. Meine Mutter war einfach gemein zu mir. Sie riet meinem Vater, mich in den »Pütt« zu stecken, und mein Vater fragte mich dauernd, was ich dann werden wolle, und ich sagte »Clown«. Er sagte: »Du meinst Schauspieler - gut - vielleicht kann ich Dich auf eine Schule schicken.« - »Nein«, sagte ich, »nicht Schauspieler, sondern Clown - und Schulen nützen mir nichts.« — »Aber was stellst du dir denn vor?« fragte er. »Nichts«, sagte ich, »nichts. Ich werde schon abhauen.« Es waren zwei fürchterliche Monate, denn ich fand nicht den Mut, wirklich abzuhauen, und bei jedem Bissen, den ich aß, blickte mich meine Mutter an, als wäre ich ein Verbrecher. Dabei hat sie jahrelang allerlei hergelaufene Schmarotzer am Fressen gehalten, aber das waren »Künstler und Dichter«; Schnitzler, dieser Kitschbruder, und Gruber, der gar nicht so übel war. Er war ein fetter, schweigsamer und schmutziger Lyriker, der ein halbes Jahr bei uns wohnte und nicht eine einzige Zeile schrieb. Wenn er morgens zum Frühstück herunterkam, blickte meine Mutter ihn jedesmal an, als erwarte sie, die Spuren seines nächtlichen Ringens mit dem Dämon zu entdecken. Es war fast schon unzüchtig, wie sie ihn ansah. Er verschwand eines Tages spurlos, und wir Kinder waren überrascht und erschrocken, als wir auf seinem Zimmer einen ganzen Haufen zerlesener Kriminalromane entdeckten, auf seinem Schreibtisch ein paar Zettel, auf denen nur ein Wort stand: »Nichts«, auf einem Zettel stand es zweimal: »Nichts, nichts.« Für solche Leute ging meine Mutter sogar in den Keller und holte ein Extrastück Schinken. Ich glaube, wenn ich angefangen hätte, mir riesige Staffeleien anzuschaffen, und auf riesige Leinwände

blödes Zeug gepinselt hätte, wäre sie sogar imstande gewesen, sich mit meiner

söhnen. Dann hätte sie sagen können: »Unser Hans ist ein Künstler, er wird seinen Weg schon finden. Er ringt noch.« Aber so war ich nichts als ein etwas ältlicher Untersekundaner, von dem sie nur wußte, daß er »ganz gut irgendwelche Faxen« machen kann. Ich weigerte mich natürlich, für das bißchen Fressen auch noch

»Proben meines Könnens« zu geben. So verbrachte ich halbe Tage bei Maries Vater, dem alten Derkum, dem ich ein bißchen im Laden half und der mir Zigaretten schenkte, obwohl es ihm nicht sehr gut ging. Es waren nur zwei Monate, die ich auf diese Weise zu Hause verbrachte, aber sie kamen mir wie eine Ewigkeit vor, viel län- ger als der Krieg. Marie sah ich selten, sie war mitten in der Vorbereitung fürs Abitur und lernte mit ihren Schulkameradinnen. Manchmal ertappte mich der alte Derkum dabei, daß ich ihm gar nicht zuhörte, sondern nur auf die Küchentür starrte, dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Sie kommt heute erst spät«, und ich wurde rot.

Es war ein Freitag und ich wußte, daß der alte Derkum freitags abends immer ins Kino ging, aber ich wußte nicht, ob Marie zu Hause sein oder bei einer Freundin fürs Abitur pauken würde. Ich dachte an gar nichts und doch an fast alles, sogar daran, ob sie »nachher« noch in der Lage sein würde, ihre Prüfung zu machen, und schon wußte ich, was sich nachher bestätigte, daß nicht nur halb Bonn sich über die Verführung empören würde, sondern hinzufügen würde: »und so kurz vor dem Abitur«. Ich dachte sogar an die Mädchen aus ihrer Gruppe, für die es eine Enttäuschung sein würde. Ich hatte eine fürchterliche Angst vor dem, was im Internat ein Junge einmal als »die körperlichen Einzelheiten« bezeichnet hatte, und die Frage der Potenz beunruhigte mich. Das Überraschende für mich war, daß ich vom »fleischlichen Verlangen« nicht das geringste spürte. Ich dachte auch daran, daß es unfair von mir war, mit dem Schlüssel, den ihr Vater mir gegeben hatte, ins Haus und auf Maries Zimmer zu gehen, aber ich hatte gar keine andere Wahl, als den Schlüssel zu benut-

zen. Das einzige Fenster in Maries Zimmer lag zur Straße

hin, und die war bis zwei Uhr morgens so belebt, daß ich auf dem Polizeibüro gelandet wäre - und ich mußte diese Sache heute mit Marie tun. Ich ging sogar in eine Drogerie und kaufte mir von dem Geld, das ich von meinem Bruder Leo geliehen hatte, irgendein Zeug, von dem sie in der Schule erzählt hatten, daß es die männliche Kraft steigere. Ich wurde knallrot, als ich in die Drogerie ging, zum Glück bediente mich ein Mann, aber ich sprach so leise, daß er mich anbrüllte und mich aufforderte,

»laut und deutlich« zu sagen, was ich wolle, und ich nannte den Namen des Präparats, bekam es und zahlte bei der Frau des Drogisten, die mich kopfschüttelnd ansah. Natürlich kannte sie mich, und als sie am nächsten Morgen erfuhr, was geschehen war, machte sie sich wahrscheinlich Gedanken, die gar nicht zutrafen, denn zwei Straßen weiter öffnete ich die Schachtel und ließ die Pillen in die Gosse rollen.

Um sieben, als die Kinos angefangen hatten, ging ich in die Gudenauggasse, den Schlüssel schon in der Hand, aber die Ladentür war noch auf, und als ich reinging, steckte oben Marie den Kopf in den Flur und rief »Hallo, ist da jemand?« -»Ja«, rief ich, »ich bins« - ich rannte die Treppe hinauf, und sie sah mich erstaunt an, als ich sie, ohne sie anzurühren, langsam in ihr Zimmer zurückdrängte. Wir hatten nicht viel miteinander gesprochen, uns immer nur angesehen und angelächelt, und ich wußte auch bei ihr nicht, ob ich du oder Sie sagen sollte. Sie hatte den grauen, zerschlissenen, von ihrer Mutter geerbten Bademantel an, das dunkle Haar hinten mit einer grünen Kordel zusammengebunden; später, als ich die Schnur aufknüpfte, sah ich, daß es ein Stück Angelschnur von ihrem Vater war. Sie war so erschrocken, daß ich gar nichts zu sagen brauchte, und sie wußte genau, was ich wollte. »Geh«, sagte sie, aber sie sagte es automatisch, ich wußte ja, daß sie es sagen mußte, und wir wußten beide, daß es sowohl ernst gemeint wie automatisch gesagt war, aber schon als sie

»Geh« zu mir sagte, und nicht »Gehen Sie«, war die Sache entschieden. Es lag soviel

zigen Wort, daß ich dachte, sie würde für ein Leben ausreichen, und ich hätte fast geweint; sie sagte es so, daß ich überzeugt war: sie hatte gewußt, daß ich kommen würde, jedenfalls war sie nicht vollkommen überrascht. »Nein, nein«, sagte ich, »ich gehe nicht - wohin sollte ich denn gehen?« Sie schüttelte den Kopf. »Soll ich mir zwanzig Mark leihen und nach Köln fahren - und dich dann später heiraten?« -

»Nein«, sagte sie, »fahr nicht nach Köln.« Ich sah sie an und hatte kaum noch Angst. Ich war kein Kind mehr, und sie war eine Frau, ich blickte dorthin, wo sie den Bademantel zusammenhielt, ich blickte auf ihren Tisch am Fenster und war froh, daß kein Schulkram da herumlag: nur Nähzeug und ein Schnittmuster. Ich lief in den Laden runter, schloß ihn ab und legte den Schlüssel dahin, wo er schon seit fünfzig Jahren hingelegt wird: zwischen die Seidenkissen und die Sütterlin-hefte. Als ich wieder raufkam, saß sie weinend auf ihrem Bett. Ich setzte mich auch auf ihr Bett, an die andere Ecke, zündete eine Zigarette an, gab sie ihr, und sie rauchte die erste Zigarette ihres Lebens, ungeschickt; wir mußten lachen, sie blies den Rauch so komisch aus ihrem gespitzten Mund, daß es fast kokett aussah, und als er ihr zufällig einmal aus der Nase herauskam, lachte ich: es sah so verworfen aus. Schließlich fingen wir an zu reden, und wir redeten viel. Sie sagte, sie denke an die Frauen in Köln, die

»diese Sache« für Geld machten und wohl glaubten, sie wäre mit Geld zu bezahlen, aber es wäre nicht mit Geld zu bezahlen, und so stünden alle Frauen, deren Männer dorthin gingen, in ihrer Schuld, und sie wolle nicht in der Schuld dieser Frauen ste- hen. Auch ich redete viel, ich sagte, daß ich alles, was ich über die sogenannte körperliche Liebe und über die andere Liebe gelesen hätte, für Unsinn hielte. Ich könnte das nicht voneinander trennen, und sie fragte mich, ob ich sie denn schön fände und sie liebte, und ich sagte, sie sei das einzige Mädchen, mit dem ich »diese Sache« tun wollte, und ich hätte immer nur an sie gedacht, wenn ich an die Sache

gedacht hätte, auch schon im Internat; immer nur an sie.

Schließlich stand Marie auf und ging ins Badezimmer, während ich auf ihrem Bett sitzenblieb, weiterrauchte und an die scheußlichen Pillen dachte, die ich hatte in die Gosse rollen lassen. Ich bekam wieder Angst, ging zum Badezimmer rüber, klopfte an, Marie zögerte einen Augenblick, bevor sie ja sagte, dann ging ich rein, und sobald ich sie sah, war die Angst wieder weg. Ihr liefen die Tränen übers Gesicht, während sie sich Haarwasser ins Haar massierte, dann puderte sie sich, und ich sagte:

»Was machst du denn da ?« Und sie sagte: »Ich mach mich schön.« Die Tränen gruben kleine Rillen in den Puder, den sie viel zu dick auftrug, und sie sagte:

»Willst Du nicht doch wieder gehn?« Und ich sagte »Nein.« Sie betupfte sich noch mit Kölnisch Wasser, während ich auf der Kante der Badewanne saß und mir überlegte, ob zwei Stunden wohl ausreichen würden; mehr als eine halbe Stunde hatten wir schon verschwätzt. In der Schule hatte es Spezialisten für diese Fragen gegeben: wie schwer es sei, ein Mädchen zur Frau zu machen, und ich hatte dauernd Günther im Kopf, der Siegfried vorschicken mußte, und dachte an das fürchterliche Nibelungengemetzel, das dieser Sache wegen entstanden war, und wie ich in der Schule, als wir die Nibe- lungensage durchnahmen, aufgestanden war und zu Pater Wunibald gesagt hatte:

»Eigentlich war Brunhild doch Siegfrieds Frau«, und er hatte gelächelt und gesagt:


»Aber verheiratet war er mit Krimhild, mein Junge«, und ich war wütend geworden und hatte behauptet, das wäre eine Auslegung, die ich als »pfäffisch« empfände. Pater Wunibald wurde wütend, klopfte mit dem Finger aufs Pult, berief sich auf seine Autorität und verbat sich eine »derartige Beleidigung«. Ich stand auf und sagte zu Marie: »Wein doch nicht«, und sie hörte auf zu weinen und machte mit der Puderquaste die Tränenrillen wieder glatt. Bevor wir auf ihr Zimmer gingen, blieben wir im Flur noch am Fenster stehen und blickten auf die Straße: es war Januar, die Straße naß, gelb die Lichter über dem Asphalt, grün die Reklame über dem

Gemüseladen drüben: Emil Schmitz. Ich kannte Schmitz, wußte aber

nicht, daß er Emil mit Vornamen hieß, und der Vorname Emil kam mir bei dem Nachnamen Schmitz unpassend vor. Bevor wir in Maries Zimmer gingen, öffnete ich die Tür einen Spalt und knipste drinnen das Licht aus.


Als ihr Vater nach Hause kam, schliefen wir noch nicht; es war fast elf, wir hörten, wie er unten in den Laden ging, sich Zigaretten zu holen, bevor er die Treppe heraufkam. Wir dachten beide, er müsse etwas merken: es war doch etwas so Ungeheures passiert. Aber er merkte nichts, lauschte nur einen Augenblick an der Tür und ging nach oben. Wir hörten, wie er seine Schuhe auszog, auf den Boden warf, wir hörten ihn später im Schlaf husten. Ich dachte darüber nach, wie er die Sache hinnehmen würde. Er war nicht mehr katholisch, schon lange aus der Kirche ausgetreten, und er hatte bei mir immer auf die »verlogene sexuelle Moral der bürger- lichen Gesellschaft« geschimpft und war wütend »über den Schwindel, den die Pfaffen mit der Ehe treiben.« Aber ich war nicht sicher, ob er das, was ich mit Marie getan hatte, ohne Krach hinnehmen würde. Ich hatte ihn sehr gern und er mich, und ich war versucht, mitten in der Nacht aufzustehen, auf sein Zimmer zu gehen, ihm alles zu sagen, aber dann fiel mir ein, daß ich alt genug war, einundzwanzig, Marie auch alt genug, neunzehn, und daß bestimmte Formen männlicher Aufrichtigkeit peinlicher sind als Schweigen, und außerdem fand ich: es ging ihn gar nicht so viel an, wie ich gedacht hatte. Ich hätte ja wohl kaum am Nachmittag zu ihm gehen und ihm sagen können: »Herr Derkum, ich will diese Nacht bei Ihrer Tochter schlafen« - und was geschehen war, würde er schon erfahren.

Wenig später stand Marie auf, küßte mich im Dunkeln und zog die Bettwäsche ab. Es war ganz dunkel im Zimmer, von draußen kam kein Licht rein, wir hatten die dicken Vorhänge zugezogen, und ich dachte darüber nach, woher sie wußte, was jetzt zu tun war: die Bettwäsche abziehen und das Fenster öffnen. Sie flüsterte mir zu: Ich

geh ins Badezimmer,

wasch du dich hier, und sie zog mich an der Hand aus dem Bett, führte mich im Dunkeln an der Hand in die Ecke, wo ihre Waschkommode stand, führte meine Hand an den Waschkrug, die Seifenschüssel, die Waschschüssel und ging mit den Bettüchern unterm Arm raus. Ich wusch mich, legte mich wieder ins Bett und wunderte mich, wo Marie so lange mit der sauberen Wäsche blieb. Ich war todmüde, froh, daß ich, ohne in Angstzustände zu fallen, an den verflixten Günther denken konnte, und bekam dann Angst, es könnte Marie irgendetwas passiert sein. Im Internat hatten sie fürchterliche Einzelheiten erzählt. Es war nicht angenehm, ohne Bettwäsche da auf der Matratze zu liegen, sie. war alt und durchgelegen, ich hatte nur mein Unterhemd an und fror. Ich dachte wieder an Maries Vater. Alle hielten ihn für einen Kommunisten, aber als er nach dem Krieg Bürgermeister werden sollte, hatten die Kommunisten dafür gesorgt, daß er's nicht wurde, und jedesmal, wenn ich anfing, die Nazis mit den Kommunisten zu vergleichen, wurde er wütend und sagte: »Es ist schon ein Unterschied, Junge, ob einer in einem Krieg fällt, den eine Schmierseifenfirma führt - oder ob er für eine Sache stirbt, an die einer glauben kann.« Was er wirklich war, weiß ich bis heute nicht, und als Kinkel ihn einmal in meiner Gegenwart einen »genialen Sektierer« nannte, war ich drauf und dran, Kinkel ins Gesicht zu spucken. Der alte Derkum war einer der wenigen Männer, die mir Respekt eingeflößt haben. Er war mager und bitter, viel jünger, als er aussah, und vom vielen Zigarettenrauchen hatte er Atembeschwerden. Ich hörte ihn die ganze Zeit über, während ich auf Marie wartete, da oben im Schlafzimmer husten, kam mir gemein vor, und wußte doch, daß ichs nicht war. Er hatte einmal zu mir gesagt:

»Weißt du auch, warum in den herrschaftlichen Häusern, wie dein Elternhaus eins ist, die Dienstmädchenzimmer immer neben den Zimmern für die heranwachsenden Jungen liegen? Ich will es dir sagen: es ist eine uralte Spekulation auf die Natur und die

Barmherzigkeit.« Ich wünschte, er wäre runtergekommen und hätte mich in Maries

überrascht, aber raufgehen und sozusagen Meldung erstatten, das wollte ich nicht.


Es wurde schon hell draußen. Mir war kalt, und die Schäbigkeit von Maries Zimmer bedrückte mich. Die Derkums galten schon lange als heruntergekommen, und der Abstieg wurde dem »politischen Fanatismus« von Maries Vater zugeschrieben. Sie hatten eine kleine Druckerei gehabt, einen kleinen Verlag, eine Buchhandlung, aber jetzt hatten sie nur noch diesen kleinen Schreibwarenladen, in dem sie auch Süßigkeiten an Schulkinder verkauften. Mein Vater hatte einmal zu mir gesagt: »Da siehst du, wie weit Fanatismus einen Menschen treiben kann - dabei hat Derkum nach dem Krieg als politisch Verfolgter die besten Chancen gehabt, seine eigene Zeitung zu bekommen.« Merkwürdigerweise hatte ich den alten Derkum nie fanatisch gefunden, aber vielleicht hatte mein Vater Fanatismus und Konsequenz miteinander verwechselt. Maries Vater verkaufte nicht einmal Gebetbücher, obwohl das eine Möglichkeit gewesen wäre, besonders vor den weißen Sonntagen ein bißchen Geld zu verdienen.

Als es hell in Maries Zimmer wurde, sah ich, wie arm sie wirklich waren: sie hatte drei Kleider im Schrank hängen: das dunkelgrüne, von dem ich das Gefühl hatte, es schon seit einem Jahrhundert an ihr gesehen zu haben, ein gelbliches, das fast ganz verschlissen war, und das merkwürdige dunkelblaue Kostüm, das sie immer in der Prozession trug, der alte flaschengrüne Wintermantel und nur drei Paar Schuhe. Ei- nen Augenblick lang spürte ich die Versuchung aufzustehen, die Schubladen zu öffnen und mir ihre Wäsche anzusehen, aber dann ließ ich es. Ich glaube, nicht einmal, wenn ich mit einer Frau richtig verheiratet wäre, würde ich mir deren Wäsche ansehen. Ihr Vater hustete schon lange nicht mehr. Es war schon sechs vorüber, als Marie endlich aus dem Badezimmer kam. Ich war froh, daß ich mit ihr getan hatte, was ich immer mit ihr hatte tun wollen, ich küßte sie und war glücklich,

daß sie lächelte. Ich spürte ihre Hände an meinem

Hals: eiskalt, und ich fragte sie flüsternd: »Was hast du denn gemacht?« Sie sagte:


»Was soll ich wohl gemacht haben, ich habe die Bettwäsche ausgewaschen. Ich hätte dir gern frische gebracht, aber wir haben nur vier Paar, immer zwei auf den Betten und zwei in der Wäsche.« Ich zog sie neben mich, deckte sie zu und legte ihre eiskalten Hände in meine Achselhöhlen, und Marie sagte, dort lägen sie so wunderbar, warm wie Vögel in einem Nest. »Ich konnte die Bettwäsche doch nicht Frau Huber geben«, sagte sie, »die wäscht immer für uns, und so hätte die ganze Stadt teilgenommen an dem, was wir getan haben, und wegwerfen wollte ich sie auch nicht. Ich dachte einen Augenblick lang daran, sie wegzuwerfen, aber dann fand ich es doch zu schade.« - »Hast du denn kein warmes Wasser gehabt?« fragte ich, und sie sagte: »Nein, der Boiler ist schon lange kaputt.« Dann fing sie ganz plötzlich an zu weinen, und ich fragte sie, warum sie denn jetzt weine, und sie flüsterte: »Mein Gott, ich bin doch katholisch, das weißt du doch —« und ich sagte, daß jedes andere Mädchen, evangelisch oder ungläubig, wahrscheinlich auch weinen würde, und ich wüßte sogar, warum; sie blickte mich fragend an, und ich sagte: »Weil es wirklich so etwas wie Unschuld gibt.« Sie weinte weiter, und ich fragte nicht, warum sie weine. Ich wußte es: sie hatte diese Mädchengruppe schon ein paar Jahre und war immer mit der Prozession gegangen, hatte bestimmt mit den Mädchen dauernd von der Jungfrau Maria gesprochen - und nun kam sie sich wie eine Betrügerin oder Verräterin vor. Ich konnte mir vorstellen, wie schlimm es für sie war. Es war wirklich schlimm, aber ich hatte nicht länger warten können. Ich sagte, ich würde mit den Mädchen sprechen, und sie schrak hoch und sagte: »Was - mit wem?« - »Mit den Mädchen aus deiner Gruppe«, sagte ich, »es ist wirklich eine schlimme Sache für dich, und wenn es hart auf hart kommt, kannst du meinetwegen sagen, ich hätte dich vergewaltigt.« Sie lachte und sagte: »Nein, das ist Unsinn, was willst du denn den Mädchen sagen?« Ich

sagte: »Ich werde nichts sagen, ich werde einfach vor ihnen auftre-

ten, ein Paar Nummern vorführen und Imitationen machen, und sie werden denken: Ach, das ist also dieser Schnier, der mit Marie diese Sache getan hat - dann ist es schon ganz anders, als wenn da nur herumgeflüstert wird.« Sie überlegte, lachte wieder und sagte leise: »Du bist nicht dumm.« Dann weinte sie plötzlich wieder und sagte: »Ich kann mich hier nicht mehr blicken lassen.« Ich fragte: »Warum?« aber sie weinte nur und schüttelte den Kopf.

Ihre Hände in meinen Achselhöhlen wurden warm, und je wärmer ihre Hände wurden, desto schläfriger wurde ich. Bald waren es ihre Hände, die mich wärmten, und als sie mich wieder fragte, ob ich sie denn liebe und schön fände, sagte ich, das sei doch selbstverständlich, aber sie meinte, sie höre das Selbstverständliche so gern, und ich murmelte schläfrig, ja, ja, ich fände sie schön und liebte sie.

Ich wurde wach, als Marie aufstand, sich wusch und anzog. Sie schämte sich nicht, und mir war es selbstverständlich, ihr dabei zuzusehen. Es war noch deutlicher als eben: wie ärmlich sie gekleidet war. Während sie alles zuband und zuknöpfte, dachte ich an die vielen hübschen Dinge, die ich ihr kaufen würde, wenn ich Geld hätte. Ich hatte schon oft vor Modegeschäften gestanden und mir Röcke und Pullover, Schuhe und Taschen angesehen und mir vorgestellt, wie ihr das alles stehen würde, aber ihr Vater hatte so strikte Vorstellungen von Geld, daß ich nie gewagt hätte, ihr etwas mitzubringen. Er hatte mir einmal gesagt: »Es ist schrecklich, arm zu sein, schlimm ist aber auch, so gerade hinzukommen, ein Zustand, in dem sich die meisten Menschen befinden.« - »Und reich zu sein?« hatte ich gefragt, »wie ist das ?«Ich war rot gewor- den. Er hatte mich scharf angesehen, war auch rot geworden und hatte gesagt:

»Junge, das kann schlimm werden, wenn du das Denken nicht aufgibst. Wenn ich noch Mut und den Glauben hätte, daß man in dieser Welt etwas ausrichten kann, weißt du, was ich tun würde?« - »Nein«, sagte ich. »Ich würde«, sagte er und wurde wieder

rot, »irgend eine Gesellschaft gründen, die sich um die Kinder reicher Leute küm-

mert. Die Dummköpfe wenden den Begriff asozial immer nur auf die Armen an.«


Mir ging viel durch den Kopf, während ich Marie beim Ankleiden zusah. Es machte mich froh und auch unglücklich, wie selbstverständlich für sie ihr Körper war. Später, als wir miteinander von Hotel zu Hotel zogen, bin ich morgens immer im Bett geblieben, um ihr zusehen zu können, wie sie sich wusch und anzog, und wenn das Badezimmer so ungünstig lag, daß ich ihr vom Bett aus nicht zusehen konnte, legte ich mich in die Wanne. An diesem Morgen in ihrem Zimmer wäre ich am liebsten liegen geblieben und wünschte, sie würde nie mit Anziehen fertig. Sie wusch sich gründlich Hals, Arme und Brust und putzte sich eifrig die Zähne. Ich selbst habe mich immer möglichst vor dem Waschen am Morgen gedrückt, und Zähneputzen ist mir immer noch ein Greuel. Ich ziehe die Badewanne vor, aber ich sah Marie immer gern dabei zu, sie war so sauber und alles so selbstverständlich, sogar die kleine Bewegung, mit der sie den Deckel auf die Zahnpastatube schraubte. Ich dachte auch an meinen Bruder Leo, der sehr fromm war, gewissenhaft und genau, und der immer wieder betonte, er

»glaube« an mich. Er stand auch vor dem Abitur, und er schämte sich irgendwie, daß ers geschafft hatte, mit neunzehn, ganz normal, während ich mit einundzwanzig mich immer noch in der Untersekunda über die betrügerische Interpretation des Nibelungenlieds ärgerte. Leo kannte sogar Marie von irgendwelchen Arbeitsgemeinschaften her, wo katholische und evangelische Jugendliche über Demokratie und über konfessionelle Toleranz diskutierten. Wir beide, Leo und ich, betrachteten unsere Eltern nur noch als eine Art Heimleiterehepaar. Es war für Leo ein fürchterlicher Schock gewesen, als er erfuhr, daß Vater schon seit fast zehn Jahren eine Geliebte hat. Auch für mich war es ein Schock, aber kein moralischer, ich konnte mir schon vorstellen, daß es schlimm sein mußte, mit meiner Mutter verheiratet zu sein, deren trügerische Sanftmut eine I- und E- Sanftmut war. Sie sprach selten einen

Satz, in dem ein A, O oder U vorge-

kommen wäre, und es war typisch für sie, daß sie Leos Namen in Le abgekürzt hatte. Ihr Lieblingssatz war: »Wir sehen die Dinge eben verschieden« - der zweitliebste Satz war: »Im Prinzip habe ich recht, ich bin bereit, gewisse Dinge zu ventilieren.« Für mich war die Tatsache, daß Vater eine Geliebte hat, eher ein ästhetischer Schock: Es paßte gar nicht zu ihm. Er ist weder leidenschaftlich noch vital, und wenn ich nicht annehmen mußte, daß sie nur eine Art Krankenschwester oder Seelenbadefrau für ihn war (wobei wieder der pathetische Ausdruck Geliebte nicht zutrifft), so war das Unordentliche daran, daß es nicht zu Vater paßte. Tatsächlich war sie einfach eine liebe, hübsche, nicht wahnsinnig intelligente Sängerin, der er nicht einmal zusätzliche Engagements oder Konzerte verschaffte. Dazu war er wieder zu korrekt. Mir kam die Sache reichlich verworren vor, für Leo wars bitter. Er war in seinen Idealen getroffen, und meine Mutter wußte Leos Zustand nicht anders zu umschreiben als »Le ist in einer Krise«, und als er dann eine Klassenarbeit fünf schrieb, wollte sie Leo zu einem Psychologen schleppen. Es gelang mir, das zu verhindern, indem ich ihm zunächst einmal alles erzählte, was ich über diese Sache, die Mann und Frau miteinander tun, wußte, und ihm so intensiv bei den Schularbeiten half, daß er die nächsten Arbeiten wieder drei und zwei schrieb - und dann hielt meine Mutter den Psychologen nicht mehr für notwendig.

Marie zog das dunkelgrüne Kleid an, und obwohl sie Schwierigkeiten mit dem Reißverschluß hatte, stand ich nicht auf, ihr zu helfen: es war so schön anzusehen, wie sie sich mit den Händen auf den Rücken griff, ihre weiße Haut, das dunkle Haar und das dunkelgrüne Kleid; ich war auch froh zu sehen, daß sie nicht nervös dabei wurde; sie kam schließlich ans Bett, und ich richtete mich auf und zog den Reißverschluß zu. Ich fragte sie, warum sie denn so schrecklich früh aufstehe, und sie sagte, ihr Vater schliefe erst gegen morgen richtig ein und würde bis neun im Bett bleiben, und sie

müsse die Zeitungen unten reinnehmen und den Laden aufmachen,

denn manchmal kämen die Schulkinder schon vor der Messe, um Hefte zu kaufen, Bleistifte, Bonbons, und »Außerdem«, sagte sie, »ist es besser, wenn du um halb acht aus dem Haus bist. Ich mache jetzt Kaffee, und in fünf Minuten kommst du leise in die Küche runter.« Ich kam mir fast verheiratet vor, als ich in die Küche runterkam, Marie mir Kaffee einschenkte und mir ein Brötchen zurechtmachte. Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Nicht gewaschen, nicht gekämmt, kommst du immer so zum Frühstück?« und ich sagte ja, nicht einmal im Internat hätten sie es fertig gebracht, mich zum regelmäßigen Waschen am frühen Morgen zu erziehen.

»Aber was machst du denn?« fragte sie, »irgendwie mußt du dich doch frisch machen?«

»Ich reibe mich immer mit Kölnisch Wasser ab«, sagte ich.


»Das ist ziemlich teuer«, sagte sie und wurde sofort rot.


»Ja«, sagte ich, »aber ich bekomme es immer geschenkt, eine große Flasche, von einem Onkel, der Generalvertreter für das Zeug ist.« Ich sah mich vor Verlegenheit in der Küche um, die ich so gut kannte: sie war klein und dunkel, nur eine Art Hinterzimmer zum Laden; in der Ecke der kleine Herd, in dem Marie die Briketts bei Glut gehalten hatte, auf die Weise wie alle Hausfrauen es tun: sie wickelt sie abends in nasses Zeitungspapier, stochert morgens die Glut hoch und entfacht mit Holz und frischen Briketts das Feuer. Ich hasse diesen Geruch von Brikettasche, der morgens in den Straßen hängt und an diesem Morgen in der muffigen kleinen Küche hing. Es war so eng, daß Marie jedesmal, wenn sie den Kaffeetopf vom Herd nahm, aufstehen und den Stuhl wegschieben mußte, und wahrscheinlich hatten ihre Großmutter und ihre Mutter es genau so machen müssen. An diesem Morgen kam mir die Küche, die ich so gut kannte, zum ersten Mal alltäglich vor. Vielleicht erlebte ich zum ersten Mal, was Alltag ist: Dinge tun müssen, bei denen nicht mehr die Lust dazu entscheidet. Ich

hatte keine Lust, dieses enge Haus je wieder zu verlassen und draußen irgendwelche

einzustehen, bei den Mädchen, bei Leo, sogar meine Eltern würden es irgendwo erfahren. Ich wäre am liebsten hier geblieben und hätte bis an mein Lebensende Bonbons und Sütterlinhefte verkauft, mich abends mit Marie oben ins Bett gelegt und bei ihr geschlafen, richtig geschlafen bei ihr, so wie die letzten Stunden vor dem Aufstehen, mit ihren Händen unter meinen Achseln. Ich fand es furchtbar und großartig, diesen Alltag, mit Kaffeetopf und Brötchen und Maries verwaschener blauweißer Schürze über dem grünen Kleid, und mir schien, als sei nur Frauen der Alltag so selbstverständlich wie ihr Körper. Ich war stolz darauf, daß Marie meine Frau war, und fühlte mich selbst nicht ganz so erwachsen, wie ich mich von jetzt an würde verhalten müssen. Ich stand auf, ging um den Tisch herum, nahm Marie in die Arme und sagte: »Weißt du noch, wie du nachts aufgestanden bist und die Bettücher gewaschen hast ?« Sie nickte. »Und ich vergesse nicht«, sagte sie, »wie du meine Hände unter den Achseln gewärmt hast - jetzt mußt du gehen, es ist gleich halb acht, und die ersten Kinder kommen.«

Ich half ihr, die Zeitungspakete von draußen hereinzuholen und auszupacken. Drüben kam gerade Schmitz mit seinem Gemüseauto vom Markt, und ich sprang in den Flur zurück, damit er mich nicht sehen sollte - aber er hatte mich schon gesehen. Nicht einmal der Teufel kann so scharfe Augen haben wie Nachbarn. Ich stand da im Laden und blickte auf die frischen Morgenzeitungen, auf die die meisten Männer so verrückt sind. Mich interessieren Zeitungen nur abends oder in der Badewanne, und in der Badewanne kommen mir die seriösesten Morgenzeitungen so unseriös wie Abendzeitungen vor. Die Schlagzeile an diesem Morgen lautete: »Strauß: mit voller Konsequenz!« Vielleicht wäre es doch besser, die Abfassung eines Leitartikels oder der Schlagzeilen einer kybernetischen Maschine zu überlassen. Es gibt Grenzen, über die hinaus Schwachsinn unterbunden werden sollte. Die Ladenklingel ging, ein kleines

Mädchen, acht oder neun Jahre alt, schwarzhaarig mit roten Wangen und frisch ge-

waschen, das Gebetbuch unterm Arm, kam in den Laden. »Seidenkissen«, sagte sie,


»für einen Groschen.« Ich wußte nicht, wieviel Seidenkissen es für einen Groschen gab, ich machte das Glas auf und zählte zwanzig Stück in eine Tüte und schämte mich zum ersten Mal meiner nicht ganz sauberen Finger, die durch das dicke Bonbonglas noch vergrößert wurden. Das Mädchen sah mich erstaunt an, als zwanzig Bonbons in die Tüte fielen, aber ich sagte: »Stimmt schon, geh«, und ich nahm ihren Groschen von der Theke und warf ihn in die Kasse.

Marie lachte, als sie zurückkam und ich ihr stolz den Groschen zeigte. »Jetzt mußt du gehen«, sagte sie.

»Warum eigentlich?« fragte ich, »kann ich nicht warten, bis dein Vater herunterkommt?«

»Wenn er herunterkommt, um neun, mußt du wieder hier sein. Geh«, sagte sie, »du mußt es deinem Bruder Leo sagen, bevor ers von irgend jemand anderem erfährt.«

»Ja«, sagte ich, »du hast recht - und du«, ich wurde schon wieder rot, »mußt du nicht zur Schule?«

»Ich geh heute nicht«, sagte sie, »nie mehr gehe ich. Komm rasch zurück.«


Es fiel mir schwer, von ihr wegzugehen, sie brachte mich bis zur Ladentür, und ich küßte sie in der offenen Tür, so daß Schmitz und seine Frau drüben es sehen konnten. Sie glotzten herüber wie Fische, die plötzlich überrascht entdecken, daß sie den Angelhaken schon lange verschluckt haben.

Ich ging weg, ohne mich umzusehen. Mir war kalt, ich schlug den Rockkragen hoch, steckte mir eine Zigarette an, machte einen kleinen Umweg über den Markt, ging die Franziskanerstraße runter und sprang an der Ecke Koblenzer Straße auf den fahrenden Bus, die Schaffnerin drückte mir die Tür auf, drohte mir mit dem Finger, als ich bei ihr stehen blieb, um zu bezahlen, und deutete kopfschüttelnd auf meine

Zigarette. Ich knipste sie aus, schob den Rest in meine Rocktasche und ging zur Mitte

meinem Gesicht schien den Mann, neben dem ich stand, wütend zu machen. Er senkte sogar die Zeitung, verzichtete auf sein »Strauß: mit voller Konsequenz!«, schob seine Brille vorne auf die Nase, sah mich kopfschüttelnd an und murmelte »Unglaublich.« Die Frau, die hinter ihm saß — ich war fast über einen Sack voll Möhren, den sie neben sich stehen hatte, gestolpert - nickte zu seinem Kommentar, schüttelte auch den Kopf und bewegte lautlos ihre Lippen.

Ich hatte mich sogar ausnahmsweise vor Maries Spiegel mit ihrem Kamm gekämmt, trug meine graue, saubere, ganz normale Jacke, und mein Bartwuchs war nie so stark, daß ein Tag ohne Rasur mich zu einer »unglaublichen« Erscheinung hätte machen können. Ich bin weder zu groß, noch zu klein, und meine Nase ist nicht so lang, daß sie in meinem Paß unter besondere Merkmale eingetragen ist. Dort steht: keine. Ich war weder schmutzig noch betrunken, und doch regte die Frau mit dem Möhrensack sich auf, mehr als der Mann mit der Brille, der schließlich nach einem letzten verzweifelten Kopfschütteln seine Brille wieder hochschob und sich mit Straußens Konsequenzen beschäftigte. Die Frau fluchte lautlos vor sich hin, machte unruhige Kopfbewegungen, um den übrigen Fahrgästen mitzuteilen, was ihre Lippen nicht preisgaben. Ich weiß bis heute nicht, wie Juden aussehen, sonst könnte ich ermessen, ob sie mich für einen gehalten hat, ich glaube eher, daß es nicht an meinem Äußeren lag, eher an meinem Blick, wenn ich aus dem Bus auf die Straße blickte und an Marie dachte. Mich machte diese stumme Feindseligkeit nervös, ich stieg eine Station zu früh aus, und ich ging zu Fuß das Stück die Ebertallee hinunter, bevor ich zum Rhein hin abschwenkte.

Die Stämme der Buchen in unserem Park waren schwarz, noch feucht, der Tennisplatz frischgewalzt, rot, vom Rhein her hörte ich das Hupen der Schleppkähne, und als ich in den Flur trat, hörte ich Anna in der Küche leise vor sich hinschimpfen.

Ich verstand immer nur ». . . kein gutes Ende — gutes Ende - kein.« Ich rief in die

»Für mich kein Frühstück, Anna«, ging rasch weiter und blieb im Wohnzimmer stehen. So dunkel war mir die Eichentäfelung, die Holzgalerie mit Humpen und Jagdtrophäen noch nie vorgekommen. Nebenan im Musikzimmer spielte Leo eine Mazurka von Chopin. Er hatte damals vor, Musik zu studieren, stand morgens um halb sechs auf, um vor Schulbeginn noch zu üben. Was er spielte, versetzte mich in eine spätere Tageszeit, und ich vergaß auch, daß Leo spielte. Leo und Chopin passen nicht zueinander, aber er spielte so gut, daß ich ihn vergaß. Von den älteren Komponisten sind mir Chopin und Schubert die liebsten. Ich weiß, daß unser Musiklehrer recht hatte, wenn er Mozart himmlisch, Beethoven großartig, Gluck einzigartig und Bach gewaltig nannte; ich weiß. Bach kommt mir immer vor wie eine dreißig-bändige Dogmatik, die mich in Erstaunen versetzt. Aber Schubert und Chopin sind so irdisch, wie ich es wohl bin. Ich höre sie am liebsten. Im Park, zum Rhein hin, sah ich vor den Trauerweiden die Schießscheiben in Großvaters Schieß- stand sich bewegen. Offenbar war Fuhrmann beauftragt, sie zu ölen. Mein Großvater trommelt manchmal ein paar »alte Knaben« zusammen, dann stehen fünfzehn Riesenautos im kleinen Rondell vor dem Haus, fünfzehn Chauffeure stehen fröstelnd zwischen den Hecken und Bäumen oder spielen gruppenweise auf den Steinbänken Skat, und wenn einer von den »alten Knaben« eine Zwölf geschossen hat, hört man bald drauf einen Sektpfropfen knallen. Manchmal hatte Großvater mich rufen lassen, und ich hatte den alten Knaben ein paar Faxen vorgemacht, Adenauer imitiert, oder Erhard - was auf eine deprimierende Weise einfach ist, oder ich hatte ihnen kleine Nummern vorgeführt: Manager im Speisewagen. Und wie boshaft ich es auch zu machen versucht hatte, sie hatten sich totgelacht, »köstlich amüsiert«, und wenn ich anschließend mit einem leeren Patronenkarton oder einem Tablett rundging, hatten sie meistens Scheine geopfert. Mit diesen zynischen alten Knackern verstand ich mich

ganz gut, ich hatte nichts mit ihnen zu tun, mit chinesischen Manda-

rinen hätte ich mich genausogut verstanden. Einige hatten sich sogar zu Kommentaren meinen Darbietungen gegenüber verstiegen »Kolossal« -

»Großartig«. Manche hatten sogar mehr als ein Wort gesagt: »Der Junge hat's in sich« oder »In dem steckt noch was.«

Während ich Chopin hörte, dachte ich zum erstenmal daran, Engagements zu suchen, um ein bißchen Geld zu verdienen. Ich könnte Großvater bitten, mich als Alleinunterhalter bei Kapitalistenversammlungen zu empfehlen, oder zur Auf- heiterung nach Aufsichtsratssitzungen. Ich hatte sogar schon eine Nummer

»Aufsichtsrat« einstudiert.


Als Leo ins Zimmer kam, war Chopin sofort weg; Leo ist sehr groß, blond, mit seiner randlosen Brille sieht er aus, wie ein Superintendent aussehen müßte oder ein schwedischer Jesuit. Die scharfen Bügelfalten seiner dunklen Hose nahmen den letzten Hauch Chopin weg, der weiße Pullover über der scharfgebügelten Hose wirkte peinlich, wie der Kragen des roten Hemdes, das über dem weißen Pullover zu sehen war. Ein solcher Anblick - wenn ich sehe, wie jemand vergeblich versucht, gelockert auszusehen - versetzt mich immer in tiefe Melancholie, wie anspruchsvolle Vornamen, Ethelbert, Gerentrud. Ich sah auch wieder, wie Leo Henriette ähnlich sieht, ohne ihr zu gleichen: die Stupsnase, die blauen Augen, der Haaransatz - aber nicht ihren Mund, und alles, was an Henriette hübsch und beweglich wirkte, ist an ihm rührend und steif. Man sieht ihm nicht an, daß er der beste Turner in der Klasse ist; er sieht aus wie ein Junge, der vom Turnen befreit ist, hat aber über seinem Bett ein halbes Dutzend Sportdiplome hängen.

Er kam rasch auf mich zu, blieb plötzlich ein paar Schritte vor mir stehen, seine verlegenen Hände etwas seitwärts gespreizt, und sagte: »Hans, was ist denn?« Er blickte mir in die Augen, etwas darunter, wie jemand, der einen auf einen Flecken

aufmerksam machen will, und ich merkte, daß ich geweint hatte. Wenn ich Chopin

Tränen weg und sagte: »Ich wußte nicht, daß du so gut Chopin spielen kannst. Spiel die Mazurka doch noch einmal.«

»Ich kann nicht«, sagte er, »ich muß zur Schule, wir kriegen in der ersten Stunde die Deutschthemen fürs Abitur.«

»Ich bring dich mit Mutters Auto hin«, sagte ich.


»Ich mag nicht mit diesem dummen Auto fahren«, sagte er, »du weißt, daß ich es hasse.« Mutter hatte damals von einer Freundin »wahnsinnig preiswert« einen Sportwagen übernommen, und Leo war sehr empfindlich, wenn ihm irgend etwas als Angeberei ausgelegt werden konnte. Es gab nur eine Möglichkeit, ihn in wilden Zorn zu versetzen: wenn jemand ihn hänselte oder hätschelte unserer reichen Eltern wegen, dann wurde er rot und schlug mit den Fäusten um sich.

»Mach eine Ausnahme«, sagte ich, »setz dich ans Klavier und spiel. Willst du gar nicht wissen, wo ich war?«

Er wurde rot, blickte auf den Boden und sagte: »Nein, ich will es nicht wissen.«


»Ich war bei einem Mädchen«, sagte ich, »bei einer Frau - meiner Frau.«


»So?« sagte er, ohne aufzublicken. »Wann hat die Trauung denn stattgefunden?« Er wußte immer noch nicht, wohin mit seinen verlegenen Händen, wollte plötzlich mit gesenktem Kopf an mir vorbeigehen. Ich hielt ihn am Ärmel fest.

»Es ist Marie Derkum«, sagte ich leise. Er entzog mir seinen Ellbogen, trat einen Schritt zurück und sagte: »Mein Gott, nein.«

Er sah mich böse an und knurrte irgend etwas vor sich hin.


»Was«, fragte ich, »was hast du gesagt?«


»Daß ich jetzt doch mit dem Auto fahren muß - bringst du mich?«


Ich sagte ja, nahm ihn bei der Schulter und ging neben ihm her durchs Wohnzimmer. Ich wollte es ihm ersparen, mich anzusehen. »Geh und hol die Schlüssel«, sagte ich,

»dir gibt Mutter sie - und vergiß die Papiere nicht - und, Leo, ich brauche Geld - hast

»Ich weiß nicht«, sagte ich, »schick es mir lieber.«


»Schicken?« fragte er. »Willst du weggehen?«


»Ja«, sagte ich. Er nickte und ging die Treppe hinauf.


Erst in dem Augenblick, als er mich fragte, hatte ich gewußt, daß ich weggehen wollte. Ich ging in die Küche, wo Anna mich knurrend empfing.

»Ich dachte, du wolltest kein Frühstück mehr«, sagte sie böse.


»Frühstück nicht«, sagte ich, »aber Kaffee.«Ich setzte mich an den gescheuerten Tisch und sah Anna zu, wie sie am Herd den Filter von der Kaffeekanne nahm und ihn zum Austropfen auf eine Tasse stellte. Wir frühstückten immer morgens mit den Mädchen in der Küche, weil es uns zu langweilig war, im Eßzimmer feierlich serviert zu bekommen. Um diese Zeit war nur Anna in der Küche. Norette, das Zweitmädchen, war bei Mutter im Schlafzimmer, servierte ihr das Frühstück und besprach mit ihr Garderobe und Kosmetik. Wahrscheinlich mahlte Mutter jetzt irgendwelche Weizenkeime zwischen ihren herrlichen Zähnen, während irgendein Zeug, das aus Plazenten hergestellt ist, auf ihrem Gesicht liegt und Norette ihr aus der Zeitung vorliest. Vielleicht waren sie auch jetzt erst beim Morgengebet, das sich aus Goethe und Luther zusammensetzt und meistens einen Zusatz moralischer Aufrüstung erhält, oder Norette las meiner Mutter aus den gesammelten Prospekten für Abführmittel vor. Sie hat ganze Schnellhefter voll Medikamentenprospekte, getrennt nach

»Verdauung«, »Herz«, »Nerven«, und wenn sie irgendwo eines Arztes habhaft werden kann, informiert sie sich nach »Neuerscheinungen«, spart dabei das Honorar für eine Konsultation. Wenn einer der Ärzte ihr dann Probepackungen schickt, ist sie selig.

Ich sah Annas Rücken an, daß sie den Augenblick scheute, wo sie sich rumdrehen, mir ins Gesicht blicken und mit mir reden mußte. Wir beide haben uns gern, obwohl

sie die peinliche Tendenz, mich zu erziehen, nie unterdrücken kann. Sie war schon

Vetter, der evangelischer Pfarrer war, übernommen. Anna ist aus Potsdam, und schon die Tatsache, daß wir, obschon evangelisch, rheinischen Dialekt sprechen, kommt ihr irgendwie ungeheuerlich, fast widernatürlich vor. Ich glaube, ein Protestant, der bayrisch spräche, würde ihr wie der Leibhaftige vorkommen. Ans Rheinland hat sie sich schon ein bißchen gewöhnt. Sie ist groß, schlank und stolz drauf, daß sie »sich wie eine Dame bewegt«. Ihr Vater war Zahlmeister bei einem Ding, von dem ich nur weiß, daß es I. R. 9 hieß. Es nutzt gar nichts, Anna zu sagen, daß wir ja nicht bei diesem I. R. 9 sind; was Jugenderziehung anbelangt, läßt sie sich nicht von dem Spruch abbringen: »Das wäre beim I. R. 9 nicht möglich gewesen.« Ich bin nie ganz hinter dieses I. R. 9 gekommen, weiß aber inzwischen, daß ich in dieser geheimnisvollen Erziehungsinstitution wahrscheinlich nicht einmal als Kloreiniger eine Chance gehabt hätte. Vor allem meine Waschpraktiken riefen bei Anna immer I. R. 9-Beschwörun-gen hervor, und »diese fürchterliche Angewohnheit, so lange wie möglich im Bett zu bleiben«, ruft bei ihr einen Ekel hervor, als wäre ich mit Lepra behaftet. Als sie sich endlich umdrehte, mit der Kaffeekanne an den Tisch kam, hielt sie die Augen gesenkt wie eine Nonne, die einen etwas anrüchigen Bischof bedient. Sie tat mir leid, wie die Mädchen aus Maries Gruppe. Anna hatte mit ihrem Nonneninstinkt sicher gemerkt, wo ich herkam, während meine Mutter wahrschein- lich, wenn ich drei Jahre lang mit einer Frau heimlich verheiratet wäre, nicht das geringste merken würde. Ich nahm Anna die Kanne aus der Hand, goß mir Kaffee ein, hielt Annas Arm fest und zwang sie, mich anzusehen: sie tat es mit ihren blassen, blauen Augen, flatternden Lidern, und ich sah, daß sie tatsächlich weinte.

»Verdammt, Anna«, sagte ich, »sieh mich an. Ich nehme an, daß man in deinem I. R. 9 sich auch mannhaft in die Augen geschaut hat.«

»Ich bin kein Mann«, wimmerte sie, ich ließ sie los; sie stellte sich mit dem


Gesicht zum Herd, murmelte etwas von Sünde und Schande, Sodom und Gomorrha,

»Anna, mein Gott, denk doch dran, was die in Sodom und Gomorrha wirklich gemacht haben.« Sie schüttelte meine Hand von ihrer Schulter, ich ging aus der Küche, ohne ihr zu sagen, daß ich von zu Haus wegwollte. Sie war die einzige, mit der ich manchmal über Henriette sprach.

Leo stand schon draußen vor der Garage und blickte ängstlich auf seine Armbanduhr. »Hat Mutter gemerkt, daß ich weg war ?« fragte ich. Er sagte »Nein«, gab mir die Schlüssel und hielt das Tor auf. Ich stieg in Mutters Auto, fuhr raus und ließ Leo einsteigen. Er blickte angestrengt auf seine Fingernägel. »Ich habe das Sparbuch«, sagte er, »ich hole das Geld in der Pause. Wohin soll ichs schicken?« - »Schicks an den alten Derkum«, sagte ich. »Bitte«, sagte er, »fahr los, es ist Zeit.« Ich fuhr schnell, über unseren Gartenweg, durch die Ausfahrt und mußte draußen an der Haltestelle warten, an der Henriette eingestiegen war, als sie zur Flak fuhr. Es stiegen ein paar Mädchen in Henriettes Alter in die Straßenbahn. Als wir die Bahn überholten, sah ich noch mehr Mädchen in Henriettes Alter, lachend, wie sie gelacht hatte, mit blauen Mützen auf dem Kopf und Mänteln mit Pelzkragen. Wenn ein Krieg käme, würden ihre Eltern sie genau so wegschicken, wie meine Eltern Henriette weggeschickt hatten, sie würden ihnen Taschengeld zustecken, ein paar belegte Brote, ihnen auf die Schulter klopfen und sagen »Mach's gut«. Ich hätte den Mädchen gern zugewinkt, ließ es aber. Es wird alles mißverstanden. Wenn man in einem so dummen Auto fährt, kann man nicht einmal einem Mädchen winken. Ich hatte einmal einem Jungen im Hofgarten eine halbe Tafel Schokolade geschenkt und ihm die blonden Haare aus der schmutzigen Stirn gestrichen; er weinte und hatte sich die Tränen durchs Gesicht auf die Stirn geschmiert, ich wollte ihn nur trösten. Es gab einen fürchterlichen Auftritt mit zwei Frauen, die fast die Polizei gerufen hätten, und ich fühlte mich nach der Keiferei wirklich wie ein Unhold, weil eine der

Frauen immer zu mir sagte: »Sie schmutziger Kerl, Sie schmutziger Kerl.« Es war

mir so pervers vor, wie ein wirklicher Unhold mir vorkommt.


Während ich die Koblenzer Straße runterfuhr, viel zu schnell, schaute ich nach einem Ministerauto aus, das ich hätte schrammen können. Mutters Auto hat vorstehende Radnaben, mit denen ich ein Auto hätte ankratzen können, aber so früh war noch kein Minister unterwegs. Ich sagte zu Leo: »Wie ist es nun, gehst du wirklich zum Militär?« Er wurde rot und nickte. »Wir haben darüber gesprochen«, sagte er, »im Arbeitskreis, und sind zu dem Ergebnis gekommen, daß es der Demokratie dient.« - »Na gut«, sagte ich, »geh nur hin und mach diese Idiotie mit, ich bedaure manchmal, daß ich nicht wehrpflichtig bin.« Leo drehte sich mir fragend zu, wandte aber den Kopf weg, als ich ihn ansehen wollte. »Warum?« fragte er.

»Oh«, sagte ich, »ich würde so gern den Major einmal wiedersehen, der bei uns einquartiert war und Frau Wieneken erschießen lassen wollte. Er ist jetzt sicher Oberst oder General.« Ich hielt vor dem Beethovengymnasium, um ihn rauszulassen, er schüttelte den Kopf, sagte: »Park doch hinten rechts vom Konvikt«, ich fuhr weiter, hielt, gab Leo die Hand, aber er lächelte gequält, hielt mir weiter die offene Hand hin. Ich war in Gedanken schon weg, verstand nicht, und es machte mich nervös, wie Leo dauernd ängstlich auf seine Armbanduhr blickte. Es war erst fünf vor acht, und er hatte noch reichlich Zeit. »Du willst doch nicht wirklich zum Militär gehn«, sagte ich. »Warum nicht«, sagte er böse, »gib mir den Autoschlüssel.« Ich gab ihm den Autoschlüssel, nickte ihm zu und ging. Ich dachte die ganze Zeit an Henriette und fand es Wahnsinn, daß Leo Soldat werden wollte. Ich ging durch den Hofgarten, unter der Universität her zum Markt. Mir war kalt, und ich wollte zu Marie.

Der Laden war voller Kinder, als ich dort ankam. Die Kinder nahmen Bonbons, Griffel, Radiergummi aus den Regalen und legten dem alten Derkum das Geld auf die Theke. Als ich mich durch den Laden ins Hinterzimmer zwängte, blickte er

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nicht auf. Ich ging zum Herd, wärmte meine Hände an der Kaffeekanne und dachte, Marie würde jeden Augenblick kommen. Ich hatte keine Zigaretten mehr, und ich überlegte, ob ich sie so nehmen oder bezahlen sollte, wenn ich Marie darum bat. Ich goß mir aus der Kanne Kaffee ein, und mir fiel auf, daß drei Tassen auf dem Tisch standen. Als es im Laden still wurde, setzte ich meine Tasse ab. Ich wünschte, Marie wäre bei mir gewesen. Ich wusch mir am Spülbecken neben dem Herd Gesicht und Hände, kämmte mich mit der Nagelbürste, die in der Seifenschale lag, ich zog meinen Hemdkragen glatt, die Krawatte hoch und prüfte noch einmal meine Fingernägel: sie waren sauber. Ich wußte plötzlich, daß ich das alles tun mußte, was ich sonst nie tat. Als ihr Vater hereinkam, hatte ich mich gerade gesetzt, ich stand sofort auf. Er war so verlegen wie ich, auch so schüchtern, er sah nicht böse aus, nur sehr ernst, und als er die Hand zur Kaffeekanne ausstreckte, zuckte ich zusammen, nicht viel, aber merklich. Er schüttelte den Kopf, goß sich ein, hielt mir die Kanne hin, ich sagte danke, er sah mich immer noch nicht an. In der Nacht oben in Maries Bett, als ich über alles nach- dachte, hatte ich mich sehr sicher gefühlt. Ich hätte gern eine Zigarette gehabt, aber ich wagte nicht, mir eine aus seiner Schachtel zu nehmen, die auf dem Tisch lag. Jederzeit sonst hätte ich es getan. Wie er da stand, über den Tisch gebeugt, mit der großen Glatze und dem grauen, unordentlichen Haarkranz, kam er mir sehr alt vor. Ich sagte leise: »Herr Derkum, Sie haben ein Recht«, aber er schlug mit der Hand auf den Tisch, sah mich endlich an, über seine Brille hinweg, und sagte: »Verflucht, mußte das sein - und gleich so, daß die ganze Nachbarschaft dran teilhat?« Ich war froh, daß er nicht enttäuscht war und von Ehre anfing. »Mußte das wirklich sein - du weißt doch, wie wir uns krumm gelegt haben für diese verfluchte Prüfung, und jetzt«, er schloß die Hand, öffnete sie, als wenn er einen Vogel frei ließe, »nichts.« - »Wo ist Marie?« fragte ich. »Weg«, sagte er, »nach Köln gefahren.« - »Wo ist sie?« rief ich,

»wo?« - »Nur die Ruhe«, sagte

er, »das wirst du schon erfahren. Ich nehme an, daß du jetzt von Liebe, Heirat und so weiter anfangen willst - spar dir das - los, geh. Ich bin gespannt, was aus dir wird. Geh.« Ich hatte Angst, an ihm vorbeizugehen. Ich sagte: »Und die Adresse ?«

»Hier«, sagte er und schob mir einen Zettel über den Tisch. Ich steckte den Zettel ein.


»Sonst noch was«, schrie er, »sonst noch was ? Worauf wartest du noch?« - »Ich brauche Geld«, sagte ich, und ich war froh, daß er plötzlich lachte, es war ein merkwürdiges Lachen, hart und böse, wie ich es erst einmal von ihm gehört hatte, als wir über meinen Vater sprachen.

»Geld«, sagte er, »das ist ein Witz, aber komm«, sagte er, »komm«, und er zog mich am Ärmel in den Laden, trat hinter die Theke, riß die Kasse auf und warf mir mit beiden Händen Kleingeld hin: Groschen, Fünfer und Pfennige, er streute die Münzen über die Hefte und Zeitungen, ich zögerte, fing dann langsam an, die Münzen einzusammeln, ich war versucht, sie mir in die offene Hand zu streichen, nahm sie aber dann einzeln auf, zählte sie und steckte sie markweise in die Tasche. Er sah mir dabei zu, nickte, zog sein Portemonnaie und legte mir ein Fünfmarkstück hin. Wir wurden beide rot. »Entschuldige,« sagte er leise, »entschuldige, o

Gott - entschuldige«. Er dachte, ich wäre beleidigt, aber ich verstand ihn sehr gut. Ich sagte: »Schenken Sie mir noch eine Schachtel Zigaretten«, und er griff sofort hinter sich ins Regal und gab mir zwei Schachteln. Er weinte. Ich beugte mich über die Theke und küßte ihn auf die Wange. Er ist der einzige Mann, den ich je geküßt habe.